Hans Höller zu

 

Richard Walls „Am Äußersten. Irlands Westen. Tim Robinson und Connemara“. Erlangen: Wildleser-Verlag 2020

 

Vor kurzem ist der fünfte, und bisher letzte Band von Richard Walls ‚Irland-Zyklus‘ erschienen. Er darf meines Erachtens einen besonderen literarischen Rang in dieser Werkreihe beanspruchen. Dabei stellt doch der vor dreißig Jahren begonnene und nach vorn offene Zyklus eines der eigensinnigsten, vielgestaltigsten und wildesten Literaturprojekte in der österreichischen Gegenwartsliteratur dar. Der Name „Wildleser-Verlag“, wo der neueste Band erschienen ist, passt für dieses literarische Abenteuer, das aus uns aufmerksame Wildleser und Wildleserinnen macht, umso mehr als die Frauen im Erzählen Richard Walls nirgends vergessen sind, nicht nur in der Gestalt von Caitlín Maude (1941-1982), der irländischen „Pasionaria“.

Schönheit und Eigensinn

Eigensinnig ist allein die Wahl des erzählten Raums: das an der felsigen Granitküste Irlands im äußersten Westen Europas gelegene Gebiet im Südwesten Connemaras, wo noch, abseits touristischer Reiselinien, Irisch gesprochen wird. Eigensinnig ist auch, jedenfalls im Gegensatz zur neoliberalen Weltlandschaft, eine epische Landschaftserzählung, die sich den Menschen, ihrem Leben, ihrer Arbeit und ihrem aus dem Widerstand geborenen Erinnern an die Seite stellt. So gelingt es, ohne große Worte in der kolonialen Unterdrückungsgeschichte durch das englische Imperium die Idee eines friedfertigen, solidarischen Miteinanders zu vergegenwärtigen.

Letztlich ist alles im Schreiben von Richard Wall von diesem stolzen, selbstbewussten künstlerischen Eigensinn getragen. Er brachte den im Mühlviertel in der Nähe von Linz lebenden Autor dazu, in einer der exponiertesten Gegenden Irlands seine Schreiblandschaft zu finden. Wer dabei an Adalbert Stifter denkt, hat recht, was den Granit angeht und die von Stifter beschriebenen einfachen Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Nur, dass Walls Erzählen aus dem Widerstand lebt und bei ihm das kritische Sprachbewusstsein als Triebkraft des Schreibens einen besonderen Stellenwert einnimmt – eine künstlerische Reaktion auf die Folgen der weit ins 19. Jahrhundert zurückreichenden englischen Sprachkolonialisierung.

 

Wittgenstein in Irland

Die sprichwörtliche Sprachempfindlichkeit und Sprachthematisierung in der österreichischen Literatur erfährt in Richard Walls Irlandbüchern eine entschieden politische Wendung. Die in seine Texte eingelassenen etymologischen Studien der Auslöschung oder Verballhornung der iro-keltischen Sprachgestalt besonders der Orts- und Landschaftsnamen stellen ins Politische gewendete Wittgenstein‘sche Sprachanalysen dar, literarische Formen des Kampfes gegen die Kolonialisierung des Bewusstsein mit den Mitteln der Sprache. Sogar die Wiederherstellung der authentischen irischen Namen könnte man als dichterische „Therapie“ im Sinne Ludwigs Wittgensteins verstehen, insofern sie auf die Wiedergewinnung der eigenen Identität zielt. Im Motto- Gedicht am Beginn des Buchs heißt es: „I went fishing for a lost word / And found myself. // The word was Gaelic lost in English / […]“ (Vincent Woods, The Meaning of a word).

„It is a discreet  jewel“

Richard Wall ist in Irland auf die Spuren von Wittgenstein gestoßen, der sich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre auch in der Gegend von Connemara aufhielt und dort an der Fertigstellung der Philosophischen Untersuchungen arbeitete. Diese biographische Spurensuche bildet das Sujet von Wittgenstein in Irland (1999), das bekannteste Buch aus Walls Connemara-Zyklus. George Steiner, einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, hat es als „discreet  jewel“ gewürdigt. Noch in den Schwarz-Weiß-Fotografien hat Steiner im scheinbar Amateurhaften etwas herausgelesen, was deren künstlerische Überzeugungskraft steigert. Und dabei konnte er gar nicht wissen, dass Wall auch Bildender Künstler ist, Absolvent einer Hochschule für Angewandte Kunst und industrielle Gestaltung.

Eine Landkarte

Das Wittgenstein-Buch ist das bekannteste, aber Tim Robinson und Connemara, halte ich für das schönste Buch des Zyklus. Hier werden Zeit und Raum indirekt zu Mitspielern des epischen Erzählens, von der liebevollen Biografie der Titelgestalt bis zum gewaltigen Canto der Stimmen und Geräusche der Landschaftsnatur.

Die Geschichte von Robinsons Landkarte von Connemara würdigt den Kartografen und zugleich spiegelt sie die Intention von Richard Walls Landschaftserzählung. In dieser Karte – bisher stand nur die immer wieder nachgedruckte britische Generalstabskarte aus dem Jahr 1830 zur Verfügung – werden den Orten, Landschaftsformen und Lebensräumen ihre ursprünglich irischen Namen zurückerstattet, von einem gebürtigen Engländer, „als wär’s die Geste eines ‚Nachgeborenen‘“, ohne jeden engstirnigen Nationalismus, und als hätte sie eine andere, den Menschen zugewandte Vermessung der Welt im Sinn. Robinson habe seine mühselige „Feldarbeit“ für die Karte als „Pilgerschaft“ bezeichnet. Von ihm, dem Bildenden Künstler, gezeichnet, stelle sie „ein graphisches Meisterwerk“ dar. Sie biete „eine Bestandsaufnahme, die sämtliche Küstenabschnitte, vorgelagerte Inseln, Berge, Siedlungen (auch aufgrund von Abwanderung oder der Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts aufgelassene)“ erfasst. Gerade das Verschwundene und Verlorene, zum Beispiel die bis in Details beschriebenen, längst aufgelassenen Schulen, oder „Felsen, die zur Zeit der Penal Laws als Altartische für illegal nach dem katholischen Ritus abgehaltene Messen gedient hatten“, verleihen dieser Karte und dem Begleitbuch („in einem regensicheren Umschlag mitgegeben“) eine berührende memoriale Tiefe.

Der Gesang einer Landschaft

Den ersten Teil des Buches bildet die biografische Erzählung von Tim Robinson, der in Connemara „heimisch“ wurde und dort mit seiner Frau Máiréad bis zu seinem Tod im Frühjahr 2020 lebte. Mit der Nachricht von seinem Tod beginnt das Buch. Dessen erster Teil trägt die Überschrift: „Am Saum des Gesicherten. Tim Robinson / (1935 – 2020) / Kartograph, Autor, Kulturphilosoph“. Die Schönheit von Walls Erzählens in diesem ersten Teil liegt in der Vielfalt der Formen der Zeitdarstellung. Die Zeit ist unausgesprochen das Thema in den immer wieder neuen Einsätzen des Erzählens der vielerlei Zeiten des Alltags und der Natur, und sie ist auf andere Weise gegenwärtig in den kartographischen ‚Meditationen‘ über das aus der Welt Connemaras Verschwundene.

Im zweiten Teil des Buchs folgt die gewaltige Evokation des Klangraums der Landschaftsnatur. Unter dem Titel Connemara. „Next parish New York“. Eine Anrufung bringt der Autor als Erzähler die Stimmen und Geräusche der sprachlosen Landschaftsnatur zum Sprechen, eine erzählerisch komponierte Stimmen-, Laute-, Geräuschevielfalt, über mehrere Buchseiten hin, ein Prosa-Canto all der einzelnen „Stimmen, Rufe und Geräusche“ und wie sich die Stimmen und Geräusche des Meeres und des Landes mit jenen des Regens „vermählen“.

Der Weißdornstrauch

 

Unter all den Geräuschen und Stimmen hört der Erzähler die Stimmen der Menschen heraus, die ihm wichtig sind, zunächst die des ihm nahestehenden Fergus Bourke (1934 - 2004), der die „exponierten Weißdornbäumchen“ in den Grautönen der Felsenlandschaft zum beständigen Motiv seiner Schwarz-Weiß-Fotographien gewählt hat. Unaufdringlich mischt sich mit der Nennung des Weißdornstrauchs ein Motiv der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts unter die Stimmen Connemaras. Es fällt nirgends der Name Marcel Prousts, und doch ist er unausgesprochen nur umso gegenwärtiger. Wann immer er, der Autor als Erzähler, einen blühenden Weißdornstrauch erblicke, erinnere er sich an Fergus Bourke, habe er ihn vor sich, höre er seine Stimme: „Ja, auch seine Stimmer gehört, so wie jene von Máire, Jenny, Ray, Colm, Monika und unseren Töchtern Eva-Maria und Christa zu den Geräuschen und Gerüchen von „Con-ne-ma-ra!“ 

 

Richard Wall: Streumond und Nebelfeuer, Gedichte,

 

Löcker, Wien 2019, 152 Seiten, Euro 19,80

 

 

 

Mit  STREUMOND UND NEBELFEUER  betritt ein bedeutender

 

Lyriker, Prosaist und Bildender Künstler Österreichs, nämlich

 

Richard Wall erneut die kleine, aber feine Bühne der Poesie

 

und liefert auch gleich das Umschlagbild des schön gestalteten

 

Gedichtbandes mit.

 

Seine Ars poetica hat sich in jahrzehntelanger Arbeit im Grenzbereich

 

zwischen Bild und Sprache an einem geistesgegenwärtigen Spiegel

 

geschliffen, der, gleichzeitig Rück- und Vorderseite, sozusagen den

 

Sprachraum extrem krümmend eine Einstein-Rosen-Brücke zwischen

 

Hier und Dort, zwischen äußerster Nähe und innerster Ferne erzeugt, Erinnerungen ausleuchtend und gleichzeitig Zukunft antönend, und

 

dies im Bewusstsein, dass diese Zeitenfolge nur ein vorläufiges

 

Konstrukt ist.

 

Die große Spannweite Wall’scher Geistesflüge, das breite Spektrum,

 

worin sich Wahrnehmung, Erinnerung und Reflexion zu Versen

 

vereinbaren und einander die Feder reichen, auch nur in Umrissen

 

deutlich werden zu lassen erscheint dem Rezensenten in diesem be-

 

grenzten Rahmen als ein Unterfangen, das selbst einem glücklichen, j a

 

übermütigen Sisyphos wohl dunkle Wolken auf die Stirn zauberte.

 

Da erscheinen beispielsweise im Zyklus UNI-PER-VERS-UM präzise

 

Befunde der  (Un)Weltlagen z.B. im Gedicht ZUR LAGE (p73)

 

Welt/Eine Spule, aus der sich jede und jeder/Seine irren//irrenden Fäden spinnt./...

 

und erhält im Gedicht RÄTSEL (p92) aus dem Zyklus WIRBELBLICKE

 

der Widerstand gegen eine augenscheinlich ökologisch und in ihrer

 

Humanität missglückende Welt in Form auch des poetischen Wortes seine gültige Punze: … Erfolgreich Widerstand/Zu erkennen in/Erleuchteten Wänden –//

 

Und den Schatten Gaben bringen/Über Gräber hinweg- /Sing wenn du wieder zu dir kommst.//Sing! 

 

Dann wiederum wird das vom Dichter noch Wahrzunehmende, das dem allgemeinen Blick schon unsichtbar geworden ist, im Gedicht BLICKWIRBEL

 

an einigen Beispielen als ein geheimnisvolles Atmen von Leben & Tod vor Augen und Ohren geführt, ein Atmen, das in KLAVIATUR DES LICHTS (p94)

 

aus dem Blickwinkel des Bildenden Künstlers das Verschwinden des Lichts in folgende Synästhesie fasst: …Das Geschaute ihn ihm/Als Dreiklang/verweht.

 

Unmittelbar Erlebtes führt bei Wall zu Gedanken, die ihrerseits wieder

 

in der Reflexion des/der Lesenden zu Erlebnissen werden, ja manchmal

 

auch zu Ersterbnissen, wenn der Poet in hellwacher Achtsamkeit der Natur gegenüber, nun selbst mit ihr ein Wesen, ein Wehen, ihre/seine Vergänglichkeit oder Zerstörung in Gedichten wie DAS ZITTERN DER ÄSTE IN MIR (p55), UFERBEREINIGUNG (p64) oder EPITAPH AUF EINE QUELLE (p65) zur Sprache bringt.

 

 

 

Und so führt Richard Wall unbeirrt sein Logbuch durch all die

 

Wellengänge seiner Tage und Nächte und hinterlässt uns keine Strohfeuer,

 

sondern Leuchttürme, die uns in dieser Zeit der großen Umbrüche

 

helfen, Kurs zu halten. Ahoi!